16 April 2014

Tödliche Bürokratie im Wohlfahrtsstaat

Fast wäre er gestorben, der kleine Leonardo. Aber nach zwei Wochen im künstlichen Koma, umfangreichen Hauttransplantationen, einem verlorenen Zeh und Finger überlebt der dreieinhalb Jahre alte Junge knapp den "Tag, an dem keiner half".

Die Geschichte beginnt am Abend des 18. Dezember 2011. Leonardo fühlte sich fiebrig an. Die Sicherheitsleute riefen einen Arzt vom kassenärztlichen Bereitschaftsdienst herbei. Der kam und schaute sich das Kind an. Fieber maß er nicht, die Symptome seien nicht weiter ungewöhnlich gewesen. Er stellte den Eltern ein Rezept aus, einzulösen am nächsten Tag. Aber über Nacht stieg das Fieber. Und überall am Körper hatte er schwarze Punkte, an Nase, Stirn,  Fingern.

Die Eltern liefen mit dem kranken Leonardo zur Pforte des Heims, um Hilfe zu holen.  Als der Pförtner die Flecken sah, ist er gleich ein Stück zurückgewichen, blickte dann auf die Uhr: sieben Uhr, Montag morgen. Das ist der Moment, wo die Bürokratie, die "Herrschaft der Verwaltung", das Sagen übernimmt. Das Wachpersonal dürfe nicht eigenständig einen Arzt rufen. Dienstvorschrift.

Leonardos Vater müsse sich erst einen Krankenschein geben lassen, in Raum 125. Die dort arbeitende Verwaltungsmitarbeiterin erklärte ihm, dass ihr Büro erst um neun Uhr öffne. Gegen acht Uhr gelingt es, einen Schein zu bekommen. Damit zurück zur Pforte. Leonardos Vater appellierte an den Pförtner, nun einen Rettungswagen zu rufen. Doch der Pförtner meint, dass er doch einen Stadtplan habe und alleine da hinfinden müsse. Ein Taxi rufen,  wollte er auch nicht.

Mit dem apathischen Leonardo auf dem Arm, machen sich die Eltern auf den Weg. Erst dank eines mitfühlenden Autofahrers, der die Familie an einer Straßenkreuzung auflas, gelangen sie schließlich zu einem Arzt. Der ruft jetzt einen Rettungswagen Die Mutter darf  mitfahren, der Vater muss mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinterherkommen.

Leonardo hat überlebt. Knapp. Drei Mitarbeiter des Flüchtlingsheims und ein Arzt müssen sich wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht verantworten. Der Arzt wird freigesprochen, die andern werden zu Geldbußen verurteilt. Der Richter bringt es auf den Punkt: Das sei ein "herzloses Verhalten, zu dem mir eigentlich nichts einfällt". Die Staatsanwältin trifft es fast noch besser: "Ein Kind wäre fast gestorben, weil (...) die Organisation nicht funktioniert."

Bürokratie, meine lieben Menschenskind, ist auch in einem Wohlfahrtsstaat eine herzlose Gewaltherrschaft, wie in dieser Geschichte unschwer zu erkennen ist. Der noch so moderne Wohlfahrtsstaat - Beschützer und Bewahrer des Rechts, Förderer des Allgemeinwohl - erstickt in der Schlingpflanze des Bürokratismus. Die überzogene Handlungsorientierung an Vorschriften heftet sich als Wurmfraß an alle Staatlichkeit und setzt sich an die Stelle des Menschen. Wie treffend hat es doch Nietzsche in 'Also sprach Zarathustra' geschrieben, in seiner typischen, götzenzerstörenden Art:

"Staat? Was ist das? Wohlan, jetzt tut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch ein Wort vom Tode der Völker.
Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und dies Lüge kriecht aus seinem Munde: 'Ich, der Staat, bin das Volk.'
Lüge ist's! Schaffende wäre es, die schufen die Volker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben.
Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für viele und heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin.
Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten.
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch."

Wie wahr! Wie wahr!

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