01 Mai 2015

Wie kann Gott solches zulassen?

Liebe Menschenskinder,

es ist knapp eine Woche vergangen, seit im Himalaya die Erde gebebt hat und mehr als 6000 Menschen zu Tode kamen. Jetzt regnet es und die Überlebenden versinken im Schlamm. Allein in Kathmandu sind mehr als 20.000 Menschen in den Notunterkünften untergebracht. Es fehlt an Toiletten und sauberem Wasser. Es geht die Angst um, dass man selbst und die Kinder hier krank werden. Die ersten Fälle von Durchfallerkrankungen sind schon bekannt. Die Umgebung ist einfach zu dreckig geworden. Und die Menschen fragen: 'Wie kann Gott solches zulassen?'

Daher teile ich heute einen Text mit Euch, der von Leonhard Ragaz 1911 in Basel gepredigt wurde und der von seiner Aktualität nichts verloren hat.

"Wusstet Ihr denn bisher, möchte ich den Fragern entgegenhalten, so wenig, in was für einer Welt Ihr lebt? Musste die Erde erbeben, Städte zusammenfallen und mehre tausend Leute in den Tod stürzen, bis Ihr merket, dass wir in einer Todeswelt leben, dass wir mit all unserer Macht und Pracht, unserer Technik, Wissenschaft, Arbeit, mit unserer Aufklärung und unserem Übermut auf einer dünnen Schicht Erdreich über einer Tiefe wandeln, in die wir jeden Augenblick versinken, aus der jeden Augenblick die Mächte der Vernichtung emporbrechen können? [ ... ] dass unsere Welt nun einmal so ist, dass hinter ihren Blüten der Tod lauert [ ... ]

Wir sagen: 'Wenn das und das geschieht, dann ist Gott' oder umgekehrt: 'Wenn das und das geschieht, dann ist Gott nicht.' [ ... ] Wir törichten Menschen machen dem großen Gott Vorschriften, wie er sich verhalten müsste, wenn wir an ihn glauben sollen. Wir legen gleichsam ein Pflichtenheft an, in dem verzeichnet steht, was Gott tun muss, wenn er ist. Da heißt es: 'Gott ist gütig – folglich muss er das und das tun und darf das und das nicht geschehen lassen.' Da heißt es: 'Gott ist gerecht – folglich muss er hier strafend eingreifen und dort den verdienten Lohn geben.' Da heißt es: 'Gott ist weise – folglich darf er nichts tun, was wir anders machten und muss vielmehr alles so tun, dass wir es billigen können.' Mit diesem Pflichtenheft in der Hand beurteilen wir Gottes Tun und kommen nun in eine böse Lage. Bald entspricht es ihm, bald nicht. In einen Fall glauben wir an ihn, im andern werden wir irre. Wir kommen jedenfalls aus einem unseligen und unwürdigen Schwanken nicht heraus; zu einem Glauben, der diesen Namen verdient, gelangen wir so nimmermehr. [ ... ]

Der Gott aber, von dem wir so oft reden, ist ein selbstgemachter Gott, den wir gebildet haben aus unseren törichten Gedanken, dem wir vorschreiben, wie er sich zu verhalten habe und den wir verwerfen, wenn er uns nicht entspricht, genau nach der Weise der Wilden. Darum teilen wir auch das Los der Anbeter von Götzen: die Enttäuschung. Dieser selbstgemachte Gott ist ein Nichts, er muss vergehen. [ ... ]

Wie gelangen wir, nicht bloß zu einem Schatten Gottes, einer Gottesidee, sondern zum wirklichen Gott und zu einem lebendigen Verhältnis zu ihm? Jedenfalls nicht durch Rechnen, sondern durch Erleben. Ich meine es so: Wir sagen nicht: 'Wenn das und das so ist, so will ich an Gott glauben, wenn es anders ist, dann nicht.' – ach so kalt und mechanisch kommt diese Verbindung zwischen die Seele und Gott, die tiefste, die wunderreichste, persönlichste, die es gibt, nicht zustande. [ ... ]

Die Naturwissenschaft veränderte unsere Vorstellungen von Welt und Seele und brachte damit unsern Gottesglauben in Bedrängnis, die biblische Kritik droht uns Jesus zu nehmen und die Lebenserfahrungen gaben uns schwere Fragen zu lösen. Es war vieles anders, als wir's gedacht. Aber weil wir kein Pflichtenheft für unsern Gott gemacht hatten, verwarfen wir nicht ihn, sondern revidierten unsere Vorstellungen von ihm. Weil wir nicht ein selbstgemachte Gottesbild an die Wirklichkeit heranbrachten, sondern umgekehrt uns durch die Wirklichkeit wollten lehren lassen, wie Gott sei, so schauten wir eben diese Wirklichkeit an, dachten, suchten, grübelten, litten, warteten – und nicht umsonst. Gott trat uns aus der Wirklichkeit entgegen. [ ... ] Nur Fragend lernen recht verstehen. [ ... ]

Wir sprechen nicht zu Gott: 'Du hast das und das getan, folglich sind wir mit dir fertig,' sondern: 'Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.' Wir ringen mit ihm, auf dass er sich uns wieder offenbare. Wir verlangen nicht, dass er uns folge, sondern gehen ihm nach und wär's durch alle Tiefen, wissend dass er uns höher führen will, dass er immer herrlicher ER sein sein wird, dass er unser Freund, gerade da sich am wunderbarsten offenbaren wird, wo wir ihn zuerst am wenigsten verstanden. Kurz, wir schreiben ihm nicht vor, wie er sich verhalten müsse, sondern suchen ihn zu verstehen in all seinem Tun."

Der Liederdichter schreibt in Psalm 46, Vers 11: Seid stille, [Menschenskinder], und erkennet, dass ich Gott bin.

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