10 Oktober 2015

Dem Recht Geltung verschaffen oder der Solidarität?

Liebe Menschenskinder,

tausende Flüchtlinge erreichen in unseren Tagen Deutschland und werden freundlich begrüßt. Durch das ganze Land schwappt eine Welle der Solidarität. So soll es auch sein. Zugleich gibt es natürlich einen Kampf der Meinungen um vielerlei Fragen zur aktuellen Asylbewerbersituation. Soll der Zustrom begrenzt werden oder soll es keine Obergrenze für Asylsuchende geben? Sollen die Flüchtlinge Sach- statt Geldleistungen bekommen? Soll es keine Folgeanträge mehr geben? Dafür aber Residenzpflicht und erheblich strengere Regeln für Asylbewerber. Ist eine Fahrkarte und etwas Reiseproviant nicht schon genug?

Soll man mit weniger Herz und mehr Verstand an die Sache rangehen? Hat, wer Mitleid empfindet, keinen Verstand? Reicht es, ein ’freundliches Gesicht’ zu zeigen eine Not-Versorgung mit Essen, Trinken und ein Dach über dem Kopf? Reicht das aus für ’menschenunwürdige Bedingungen’? Und wie sollen wir mit Menschen umgehen, die vor Armut, Hunger und Elend flüchten statt vor Krieg? Gilt das nicht?

Brauchen wir ein neues Einwanderungsgesetz? Und hat die Bundeskanzlerin nicht vielleicht doch einen fatalen politischen Fehler begangen? Kommt es jetzt zu einer Eskalation im innereuropäischen Streit über die Flüchtlingsfrage? Kann ihre Flüchtlingspolitik Frau Merkel das Amt kosten? Oder hat sie recht, wenn sie wieder und wieder sagt: "Wir können das schaffen, und wir schaffen das." Flüchtlinge und ausgeglichener Haushalt – geht das überhaupt?

Die einen finden die bisher getroffenen politischen Entscheidungen recht logisch, andere lassen erhebliche Zweifel aufkommen an der Diskrepanz zwischen den verfügbaren Ressourcen und der gestellten Aufgabe. Viele, viele Fragen und noch mehr Meinungen. Doch welche sollen gelten?

Vor einigen Tagen las ich im Matthäus-Evangelium in Kapitel 18: Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu mit der Frage: Wer ist der Größte im Himmelreich? Auch hier geht es um Geltung. Die Antwort Jesu: Wer ein solches Kind aufnimmt. Und dann weiter: Wer aber einen dieser Geringsten verachtet, dem wäre es besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, wo es am tiefsten ist. Was ist denn das für ein Ton?!

Jesus begründet seinen Standpunkt: Wenn ein Mensch 100 Schafe hätte und eins unter ihnen geriete in Not: Lässt er nicht die 99 auf den Bergen, geht hin und sucht das eine verirrte? Und wenn er’s findet, freut er sich darüber mehr als über die 99, denen es gut geht. Der Vater im Himmel will nicht, dass jemand von diesen verloren gehe, argumentiert Jesus.

Da trat Petrus zu ihm und fragte: Gibt es keine Obergrenze? Denn es nervt langsam. Die Last wird immer größer. Wann ist’s genug? Wie lange stehe ich noch in der Pflicht? Soll immer nur der andere gelten mit seinen Nöten, Schwächen und Unzulänglichkeiten? Hab’ ich nicht das Recht zu sagen: Jetzt reicht’s. Basta.

In Ehen und Familien sehen wir den Streit von Individuen um Geltung, in der Welt streiten Kollektive darum: Völker und Nationen, Rassen und Religionen. Immer gilt es, wirkliches oder vermeintliches Recht gegen ein anderes wirkliches oder vermeintliches Recht zur Geltung zu bringen. Vor nicht allzu langer Zeit hat uns Claus Weselsky und die Lokführer-Gewerkschaft GDL mit ihrer Geschlossenheit im Ringen um Gerechtigkeit gezeigt, wie der Wahrheit Geltung verschafft werden kann gegen ein Firmen-Imperium, gegen die Öffentlichkeit und gegen die Politik. Respekt! Aber keine irdische Gerechtigkeit ist langfristig dem egoistischen Geltungswillen von Menschen und ihren Ansprüchen gewachsen. Das führt doch bloß wieder zu neuen Machtkämpfen, ob in Ehe, Familie, Firma, Kirche oder in den Gesellschaften und unter den Völkerschaften. Es braucht da ein tieferes Bewusstsein. Auf jenes zielt Jesu mit seinem folgenden Gleichnis ab.

Oberflächlich betrachtet, scheint es, um Sünde und Vergebung zu gehen. Doch der wesentliche Vergleichungspunkt in der Geschichte ist die unendliche Schuld. Wo kommt die her? Wie kam diese zustande? Kann ein Mensch so viel sündigen? 10.000 Talente Sündenlast im Vergleich zu einem anderen mit nur 100 Denare Sündenschuld? Zur Verdeutlichung: Ein Denar entspricht einem Tageslohn und ein Talent entspricht 6000 Denare; der durchschnittliche Tageslohn in Deutschland liegt bei etwa 100.- Eur; somit hat der letztere eine Zahlungsverpflichtung von 10.000.- Eur und der erste eine von 6.000 Mio Eur – was für eine Summe!

Um Verpflichtung geht es, wohl aber um die unendliche Verpflichtung – Schuld –, die wir Menschen gegen Gott und andere Menschen haben. Es geht um eine soziale Grundordnung, die Jesus hier aufdeckt: Nämlich dass wir Menschenskinder in einer Solidarität ohne Grenzen miteinander verbunden sind. Jesus setzt dem Geltungsbedürfnis die Verpflichtung zur Solidarität entgegen. Im Reich meines Vaters, so sagt er zu Petrus, da endet die Verpflichtung des Menschen gegen den Menschen nicht. Da gibt es keine Obergrenze. Du bist und bleibst durch Gott und vor Gott mit dem anderen Menschenskind als Bruder verbunden und verpflichtet. Denn Gott ist der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden (Eph. 3, 15). Und welcher Mensch wurde nicht Kind genannt!

In dem Gleichnis gibt es ein Menschenskind, das will sich freikaufen. Man muss schon ein gewaltiges Einkommen haben, wenn man sich aus einer Schuld von sechs Milliarden Eur freikaufen will! Aber das wird abgelehnt. Nein, ein Freikaufen kommt nicht in Frage. Stattdessen soll die Freiheit zur Solidarität gelten. Die sollst du gegen andere Menschen walten lassen. Aber der Mensch will sein Recht zur Geltung bringen.

Ja, darf man das denn nicht? Darf ich nicht auf meinem Recht beharren? Muss ich zu allem Ja und Amen sagen? Muss ich mir alles gefallen lassen? Natürlich nicht! Das ist keineswegs die Moral von der Geschicht’. Jesus lehrt nicht Rechtlosigkeit, keineswegs. Aber er sagt: Da, wo dir ein größeres Recht entgegen tritt wie das unendliche Recht des Menschen als Bruder, welches ein Recht von Gott und daher unsere Pflicht ist, da müssen wir unser wirkliches oder vermeintliches Recht zurück stellen und für das Recht des Mitmenschen eintreten. Das größere Recht Gottes verpflichtet uns zu einer Solidarität, die nie endet.

Und das, was das Menschenskind in dem Gleichnis dann macht, geht gar nicht: In einer deutlich geringeren Angelegenheit, dafür aber in umso mehr Unerbittlichkeit und mit Unwillen bis hin zu drastischen Konsequenzen sich Geltung verschaffen. Schade, dass der Mensch so ist. Aber nicht alle! Es gibt auch noch andere Männer. Die wurden richtig sauer und brachten alles vor den Herrn. Sie erwiesen sich als Whistle-Blower! Recht so! Denn für Recht und Gerechtigkeit eintreten ohne falsche Nachgiebigkeit, ist ein durchaus angebrachter Kampf um Geltung. Ein Ringen, dass statt eigenmächtiger Gewalt das Menschenrecht herrsche, ist mehr denn je nötig, gerade in einer Zeit, wo multinationale Wirtschaftsimperien ganze Völker ausbeuten und der neoliberale Finanzkapitalismus dem Sozialstaat seine Vorstellungen aufzwingen will, wo mächtige Nationalstaaten nicht mehr den Menschen schützen, sondern nur die Investoren und wo für die Reichen, Mächtigen und Herrscher ein Menschenleben nichts mehr zählt.

Nein, Gott will Erbarmen und Mitgefühl. Das lehrt Jesus die Menschenskinder  Er lehrt sie Solidarität vor Geltungsbedürfnis. Weil wir alle gegeneinander unendlich schuldig sind. Weil alles zu uns gehört, weil alles Gott gehört und wir ihm. Daher sind wir verantwortlich. Und verpflichtet. Aus diesem Bewusstsein der tiefsten und letzten Verbindung mit dem anderen Menschen als Bruder, die auch dann noch besteht, wenn dieser auf’s furchtbarste gegen uns schuldig geworden ist. Denn unsere eigene Schuldverpflichtung ist immer noch größer. Sie ist unendlich. Wir sind vor Gott unendlich verpflichtet gegen den Mitmenschen, denn letztlich stehen wir zu Gott im Verhältnis unendlicher Schuld. Wir sind ihm unendlich verpflichtet. Die Geltendmachung der Würde des Menschen ist die tiefste Grundlage und das höchste Anliegen der Sache Christi.

 Und noch eines: In dem Gleichnis lehrt Jesus ganz klar, dass Gott paradoxerweise sein Verhalten nach dem Verhalten des Menschen richtet. Denn er kann unmöglich einem Menschen sein Recht und seine Freiheit geben, wenn der seine Mitmenschen nicht achtet. Gott muss gerecht sein! Doch bevor er gerecht sein muss, ist er erst unendlich gnadenvoll. Damit erhebt er den Menschen in einen Stand der Freiheit. Aber es soll der Mensch auch zum Mitmenschen so sein. Denn zuletzt richtet Gott, und das,liebe Menschenkinder dürfen wir nicht vergessen.

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