Liebe Menschenskinder,
tausende Flüchtlinge
erreichen in unseren Tagen Deutschland und werden freundlich begrüßt. Durch das
ganze Land schwappt eine Welle der Solidarität. So soll es auch sein. Zugleich
gibt es natürlich einen Kampf der Meinungen um vielerlei Fragen zur aktuellen
Asylbewerbersituation. Soll der Zustrom begrenzt werden oder soll es keine
Obergrenze für Asylsuchende geben? Sollen die Flüchtlinge Sach- statt
Geldleistungen bekommen? Soll es keine Folgeanträge mehr geben? Dafür aber
Residenzpflicht und erheblich strengere Regeln für Asylbewerber. Ist eine
Fahrkarte und etwas Reiseproviant nicht schon genug?
Soll man mit weniger Herz
und mehr Verstand an die Sache rangehen? Hat, wer Mitleid empfindet, keinen
Verstand? Reicht es, ein ’freundliches Gesicht’ zu zeigen eine Not-Versorgung
mit Essen, Trinken und ein Dach über dem Kopf? Reicht das aus für
’menschenunwürdige Bedingungen’? Und wie sollen wir mit Menschen umgehen, die
vor Armut, Hunger und Elend flüchten statt vor Krieg? Gilt das nicht?
Brauchen wir ein neues
Einwanderungsgesetz? Und hat die Bundeskanzlerin nicht vielleicht doch einen
fatalen politischen Fehler begangen? Kommt es jetzt zu einer Eskalation im
innereuropäischen Streit über die Flüchtlingsfrage? Kann ihre
Flüchtlingspolitik Frau Merkel das Amt kosten? Oder hat sie recht, wenn sie
wieder und wieder sagt: "Wir können das schaffen, und wir schaffen
das." Flüchtlinge und ausgeglichener Haushalt – geht das überhaupt?
Die einen finden die bisher
getroffenen politischen Entscheidungen recht logisch, andere lassen erhebliche
Zweifel aufkommen an der Diskrepanz zwischen den verfügbaren Ressourcen und der
gestellten Aufgabe. Viele, viele Fragen und noch mehr Meinungen. Doch welche
sollen gelten?
Vor einigen Tagen las ich
im Matthäus-Evangelium in Kapitel 18: Zu derselben Stunde traten die Jünger zu
Jesu mit der Frage: Wer ist der Größte im Himmelreich? Auch hier geht es um
Geltung. Die Antwort Jesu: Wer ein solches Kind aufnimmt. Und dann weiter: Wer
aber einen dieser Geringsten verachtet, dem wäre es besser, dass ein Mühlstein
um seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, wo es am tiefsten ist. Was
ist denn das für ein Ton?!
Jesus begründet seinen
Standpunkt: Wenn ein Mensch 100 Schafe hätte und eins unter ihnen geriete in
Not: Lässt er nicht die 99 auf den Bergen, geht hin und sucht das eine
verirrte? Und wenn er’s findet, freut er sich darüber mehr als über die 99,
denen es gut geht. Der Vater im Himmel will nicht, dass jemand von diesen
verloren gehe, argumentiert Jesus.
Da trat Petrus zu ihm und
fragte: Gibt es keine Obergrenze? Denn es nervt langsam. Die Last wird immer
größer. Wann ist’s genug? Wie lange stehe ich noch in der Pflicht? Soll immer
nur der andere gelten mit seinen Nöten, Schwächen und Unzulänglichkeiten? Hab’
ich nicht das Recht zu sagen: Jetzt reicht’s. Basta.
In Ehen und Familien sehen
wir den Streit von Individuen um Geltung, in der Welt streiten Kollektive
darum: Völker und Nationen, Rassen und Religionen. Immer gilt es, wirkliches
oder vermeintliches Recht gegen ein anderes wirkliches oder vermeintliches
Recht zur Geltung zu bringen. Vor nicht allzu langer Zeit hat uns Claus
Weselsky und die Lokführer-Gewerkschaft GDL mit ihrer Geschlossenheit im Ringen
um Gerechtigkeit gezeigt, wie der Wahrheit Geltung verschafft werden kann gegen
ein Firmen-Imperium, gegen die Öffentlichkeit und gegen die Politik. Respekt!
Aber keine irdische Gerechtigkeit ist langfristig dem egoistischen
Geltungswillen von Menschen und ihren Ansprüchen gewachsen. Das führt doch bloß
wieder zu neuen Machtkämpfen, ob in Ehe, Familie, Firma, Kirche oder in den
Gesellschaften und unter den Völkerschaften. Es braucht da ein tieferes
Bewusstsein. Auf jenes zielt Jesu mit seinem folgenden Gleichnis ab.
Oberflächlich betrachtet,
scheint es, um Sünde und Vergebung zu gehen. Doch der wesentliche
Vergleichungspunkt in der Geschichte ist die unendliche Schuld. Wo kommt die
her? Wie kam diese zustande? Kann ein Mensch so viel sündigen? 10.000 Talente
Sündenlast im Vergleich zu einem anderen mit nur 100 Denare Sündenschuld? Zur
Verdeutlichung: Ein Denar entspricht einem Tageslohn und ein Talent entspricht
6000 Denare; der durchschnittliche Tageslohn in Deutschland liegt bei etwa
100.- Eur; somit hat der letztere eine Zahlungsverpflichtung von 10.000.- Eur
und der erste eine von 6.000 Mio Eur – was für eine Summe!
Um Verpflichtung geht es,
wohl aber um die unendliche Verpflichtung – Schuld –, die wir Menschen gegen
Gott und andere Menschen haben. Es geht um eine soziale Grundordnung, die Jesus
hier aufdeckt: Nämlich dass wir Menschenskinder in einer Solidarität
ohne Grenzen miteinander verbunden sind. Jesus setzt dem Geltungsbedürfnis die
Verpflichtung zur Solidarität entgegen. Im Reich meines Vaters, so sagt er zu
Petrus, da endet die Verpflichtung des Menschen gegen den Menschen nicht. Da
gibt es keine Obergrenze. Du bist und bleibst durch Gott und vor Gott mit dem
anderen Menschenskind als Bruder verbunden und verpflichtet. Denn Gott ist der
rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden (Eph.
3, 15). Und welcher Mensch wurde nicht Kind genannt!
In dem Gleichnis gibt es
ein Menschenskind, das will sich freikaufen. Man muss schon ein gewaltiges
Einkommen haben, wenn man sich aus einer Schuld von sechs Milliarden Eur
freikaufen will! Aber das wird abgelehnt. Nein, ein Freikaufen kommt nicht in
Frage. Stattdessen soll die Freiheit zur Solidarität gelten. Die sollst du
gegen andere Menschen walten lassen. Aber der Mensch will sein Recht zur Geltung
bringen.
Ja, darf man das denn
nicht? Darf ich nicht auf meinem Recht beharren? Muss ich zu allem Ja und Amen
sagen? Muss ich mir alles gefallen lassen? Natürlich nicht! Das ist keineswegs
die Moral von der Geschicht’. Jesus lehrt nicht Rechtlosigkeit, keineswegs.
Aber er sagt: Da, wo dir ein größeres Recht entgegen tritt wie das unendliche
Recht des Menschen als Bruder, welches ein Recht von Gott und daher unsere
Pflicht ist, da müssen wir unser wirkliches oder vermeintliches Recht zurück
stellen und für das Recht des Mitmenschen eintreten. Das größere Recht Gottes
verpflichtet uns zu einer Solidarität, die nie endet.
Und das, was das
Menschenskind in dem Gleichnis dann macht, geht gar nicht: In einer deutlich
geringeren Angelegenheit, dafür aber in umso mehr Unerbittlichkeit und mit
Unwillen bis hin zu drastischen Konsequenzen sich Geltung verschaffen. Schade,
dass der Mensch so ist. Aber nicht alle! Es gibt auch noch andere Männer. Die
wurden richtig sauer und brachten alles vor den Herrn. Sie erwiesen sich als
Whistle-Blower! Recht so! Denn für Recht und Gerechtigkeit eintreten ohne
falsche Nachgiebigkeit, ist ein durchaus angebrachter Kampf um Geltung. Ein
Ringen, dass statt eigenmächtiger Gewalt das Menschenrecht herrsche, ist mehr
denn je nötig, gerade in einer Zeit, wo multinationale Wirtschaftsimperien
ganze Völker ausbeuten und der neoliberale Finanzkapitalismus dem Sozialstaat
seine Vorstellungen aufzwingen will, wo mächtige Nationalstaaten nicht mehr den
Menschen schützen, sondern nur die Investoren und wo für die Reichen, Mächtigen
und Herrscher ein Menschenleben nichts mehr zählt.
Nein, Gott will Erbarmen
und Mitgefühl. Das lehrt Jesus die Menschenskinder Er lehrt sie
Solidarität vor Geltungsbedürfnis. Weil wir alle gegeneinander unendlich
schuldig sind. Weil alles zu uns gehört, weil alles Gott gehört und wir ihm.
Daher sind wir verantwortlich. Und verpflichtet. Aus diesem Bewusstsein der
tiefsten und letzten Verbindung mit dem anderen Menschen als Bruder, die auch
dann noch besteht, wenn dieser auf’s furchtbarste gegen uns schuldig geworden
ist. Denn unsere eigene Schuldverpflichtung ist immer noch größer. Sie ist
unendlich. Wir sind vor Gott unendlich verpflichtet gegen den Mitmenschen, denn
letztlich stehen wir zu Gott im Verhältnis unendlicher Schuld. Wir sind ihm
unendlich verpflichtet. Die Geltendmachung der Würde des Menschen ist die
tiefste Grundlage und das höchste Anliegen der Sache Christi.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen