10 Oktober 2015

Jesus, der Prophet

Als Jesus, wie in Luk. 4, 18+19 berichtet, die folgenden Worte auf sich anwandte, hatte das eine gewaltige prophetische Dimension. Er las aus der Schriftrolle des Propheten Jesaja die folgenden Wort: "Der Geist des HERRN ist bei mir, darum, dass er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt,
• zu verkündigen das Evangelium den Armen,
• zu heilen die zerstoßenen Herzen,
• zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollten
• zu predigen den Blinden das Gesicht
• zu predigen den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,
• und zu verkündigen das angenehme Jahr des HERRN."

In diesem Prophetenwort des Evangeliums für die Armen steckt zugleich eine Kritik an der Macht und den Mächtigen, die die Armen arm hielten und von ihrer Armut profitierten. Und die Predigt der Freiheit für die Gefangenen (die gebundenen Sklaven) ist zugleich eine Kritik an deren Unterdrücker (denn wo Unterdrückte sind, da gibt es auch Unterdrücker), die die Dinge unverändert belassen wollten.

Das ist das Bedrohliche am Evangelium: Es verheißt nichts, ohne zugleich auch zu erschrecken oder gar zu drohen. (Luk. 6, 24-26) Es beginnt nichts Neues, ohne dass das Alte beendet wird. Es bietet keine guten Gaben an, ohne dass nicht jemand vorher die ganzen Kosten bezahlt hat.

Jesus lebte prophetische Kritik. Seine radikale Bereitschaft zu vergeben, stellte eine Blasphemie dar gegen den Gott der Machthaber über religiöse Sanktionen. Hannah Ahrendt beschreibt es treffend: „In einer Gesellschaft, die keinen Apparat für Vergebung hat und in der die Mitglieder der Gesellschaft dazu verdammt sind, für immer mit den Konsequenzen ihrer Verfehlungen leben zu müssen, stellt eine solch radikale Vergebung, wie Jesus sie praktizierte eine sehr gefährliche Handlung dar.“

Der Sabbath war ein heiliges Zeichen für eine gute soziale Ordnung. Aber so wie sich Jesus die damals gegenwärtige Handhabung des Sabbaths darstellte, war sie zu einem Mittel der Versklavung von Menschen verkommen. Diejenigen, die im quasi Sabbath-Management saßen, zogen schön brav ihren Nutzen daraus. Bis Jesus kam und den Sabbath zurecht rückte zu einem Mittel der Freiheit des Menschen anstelle der Versklavung unter eine soziale Ordnung.

Die Tatsache, dass Jesus mit den Ausgestoßenen Tischgemeinschaft pflegte, war eine Bedrohung der Moral der ganzen Gesellschaft. Die Ausgestoßenen waren das Produkt eines Arrangements, das bestimmte, wer akzeptabel ist und wer nicht, wer rein ist und wer unrein. Als Jesus dieses Arrangements überschritt und denen Barmherzigkeit zuwendete, die die "Falschen" waren, setzte er zugleich das Zeichen, dass in den Augen Gottes die "genau die Richtigen" sind.

Jesus kam völlig furchtlos mit Menschen in Berührung, die unter Krankheit, Verlust, Qual und sonstiger Bedrückung litten. Dadurch demonstrierte er, dass Gott auch solche Menschen in seine Pläne einschließt, die die Gesellschaft gerne ausschließt – oder wegschließt.

Jesu öffentlicher Umgang mit Frauen, die nicht zu seiner Sippe gehörten (z.B. die Samariterin), war eine skandalöse Verletzung des "guten Geschmacks" und der "guten Sitten" im Umgang mit dem andern Geschlecht zu jener Zeit. Damit demonstrierte er, dass das Reich Gottes nicht ein Unternehmen nur für Männer war.

Was Jesus über Steuern, Zehnten, Zölle und Mieten sagte, geschah im Bewusstsein dessen, wie schwer die politischen, religiösen und privaten Konfiszierungen auf den Schultern der Bevölkerung lasteten. In einem Gleichnis z.B. spricht Jesus sich für einen Lohn aus, der auch Benachteiligten das Leben ermöglicht. (Mat. 20, 1-16)

Indem Jesus vom Tempel und dessen Zerstörung sprach (z.B. Luk. 21, 6), traf Jesus mitten ins Herz eines irre geleiteten Erwählungswahns. Was er über die Zerstreuung Israels sagte (v. 24), erschüttert den Glauben aller in Mark und Bein, die fälschlicher weise eine garantierte historische Existenz für sich annahmen.

Ein jeder Affront Jesu gegen die sozialen Konventionen stellte eine heftige Kritik an der "Gerechtigkeit durch das Gesetz" dar.
Walter Brueggemann trifft den Nagel auf den Kopf: "Das Gesetz war zu jener Zeit ein Mittel, mit dem die Gesellschaft auf eher religiöse statt zivile Weise gemanagt wurde. Mit dem Gesetz wurde nicht nur die öffentliche Moral kontrolliert, sondern auch all die politisch-ökonomischen Werte, die hinter dieser Moral standen."

Jesus, der Prophet wagte es, in der Tradition eines Jeremia, das Ende eines regierenden Gewissens (Gesetz) zu artikulieren,
• das zum einen seine Versprechen nicht halten konnte,
• und zum andern schlicht darin versagte, eine Menschlichkeit zu gewährleisten, die sie für sich reklamierte.

Dafür, Menschenskinder, sollten wir diesem Mann aus Galiläa von Herzen dankbar sein und ihm in seinen Fußstapfen nachfolgen.

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